Natürlich ist es gut, sich über Meinungsfreiheit und -unfreiheit seine Gedanken zu machen. Aber vergessen wir darüber nicht, zu einer eigenen Meinung − so vorhanden − auch wirklich zu stehen, auch bei erwartbarem Gegenwind.
In einer Demokratie muss die Meinungsfreiheit ein «Freibrief» sein, bei dem niemand darüber zu befinden hat, welche «Denk- und Sprachmuster» sich «in unsere Sprache einnisten» dürfen und welche nicht, lieber Herr Haldenwang.
Freie herzhafte Rede, das hatte Einer definitiv vorgemacht: Jesus. Hier ein paar Kostproben aus seinen Disputen mit den Pharisäern, den damaligen Rechthabern vom Amt:
- «Ihr Schlangen! Ihr Otterngezücht! Wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entgehen?» Matthäus 23,33
- «Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben!» Matthäus 23,23
- «Ihr seid wie die weissgetünchten Grabstätten: Von aussen erscheinen sie schön, aber innen ist alles voll stinkender Verwesung.» Matthäus 23,27
Wie die derart Angesprochenen darauf reagiert hatten, ist nur indirekt überliefert. Zu Beginn des nächsten Kapitels heisst es bei Matthäus nur lapidar: «Als Jesus aus dem Heiligtum kam und weiterging, …» Der hohen Geistlichkeit scheint also der Atem gestockt zu haben. Wenigstens das.
So aber kann nur einer sprechen, der selber Maßstäbe hat. Er ist in sich gefestigt, er erkennt die Dimension des Betrugs und der Verführung, die von diesen vermeintlichen Hütern von Recht und Ordnung ausgeht, und er ruft sie zu eigentlichem Recht und Ordnung zurück. Er verschafft sich darüber nicht einfach selber Luft, sondern wirft ihrem aufs Verderben zurollenden Zug mögliche Bremsklötze unter die Räder. Dass darob auch Funken sprühen, ist Nebensache.
Fromme Gemüter unter seinen Zuhörern wären entsetzt gewesen! Ich stelle mir ihre Einwände vor:
Als da wäre: die verständnisvolle Karte.
- «Du solltest ihnen Zeit geben. Sie sind noch nicht so weit wie du. Nicht jeder hat die gleiche Einsicht. Die entwickelt sich. Du bist ihnen einfach voraus. Das schätzen wir ja, aber sei jetzt bitte nicht so grob mit ihnen. Du kannst doch auch ganz anders.»
Andere geben − liebenswürdig, wie sie nun einmal sind − zarte seelsorgerische Hinweise:
- «So kannst du doch nicht mit ihnen reden! Sie gehen halt einen anderen Weg als du. Der ist ebenfalls zu tolerieren. Du darfst dich da nicht über sie erheben. Jeder erkennt nur einen Aspekt der Wahrheit. Wir müssen einander respektieren; immerhin haben wir ja den gleichen Glauben.»
Dritte schalten hier gleich einen Gang höher:
- «Diese Menschen müssen dich aber sehr verletzt haben. Das hat sicher seine Gründe, aber lass nur ja keinen Groll aufkommen. Du solltest ihnen vergeben und dein Herzen reinigen von diesen unguten Gefühlen. Vielleicht versöhnt ihr euch ja noch, aber anfangen muss man immer bei sich selbst.»
Wer wollte denn heute noch, im Zeitalter woker Geschmeidigkeiten, «ergrimmen in seinem Geiste» wie Paulus in Athen? Wer «eifert» denn noch für die Wahrheit, wenn emotionaler Gleichmut zum Gütezeichen anständigen Christseins geworden ist?
Der Preis, den Seine Jünger nicht zu zahlen bereit sind für einen Aufstand gegen Unwahrheit und Heuchelei, den haben dann stets und ganz schnell andere zu begleichen, vielfach. Ich erspare mir die Hinweise auf das zahllose Leid durch die berüchtigten unhinterfragbaren «Maßnahmen», auf zerspargelte Landschaften, auf politisch geradezu provozierte Morde und Vergewaltigungen, auf verarmende Familien, − auf immer müder und schweigsamer werdende Massen.
«Man hat uns gelehrt, keine Feinde zu haben», schreibt Emmanuel Mounier. «Als ob es möglich wäre, auch nur einigermassen Treue zu halten, ohne sich viele Feinde zu machen.» − Anders gesagt: «Man muss auf das Christentum verzichten, wenn man (…) die christlichen Gefühle auf den Maßstab bequemer Sentimentalitäten zurückbinden» wollte (in: Der Christ stellt sich, Seiten 90f).
Mounier ergänzt diese Hinweise mit Worten seines Lehrers Léon Bloy:
«Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, besteht die christliche Liebe darin zu schimpfen, und die wahre Liebe soll unbeugsam sein», auch wenn man damit heutzutage «ein Verbrechen gegen die Schamhaftigkeit» begehe.
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Wort zum Sonntag vom 7. April 2024: Den Feind lieben − ernsthaft?
Lothar Mack war als Gemeindepfarrer und bei verschiedenen Hilfswerken und Redaktionen tätig. Sein kritischer Blick auf Kirche und Zeitgeschehen hat ihn in die Selbständigkeit geführt. Er sammelt und ermutigt Gleichgesinnte über Artikel und Begegnungen und ruft in Gottesdiensten und an Kundgebungen zu eigenständigem gläubigem Denken auf. Sein Telegram-Kanal lautet StimmeundWort.
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